Norddeutsch für Anfänger: Kohlfahrt? Was ist das?
In diesen Tagen des klirrenden Frostes zieht es Norddeutsche, genauer Ostfriesen und Wesermarscher, aller Bevölkerungsschichten zu einem grausigem Ritual, das durch die Jahrhunderte von Generation an Generation weitergegeben wurde und zum Ruf von den kühlen Norddeutschen sicherlich sein Scheffelchen beigetragen hat: die Kohlfahrt.
Es treffen sich ganze Sportvereine, Yachtclubs, Kegelbruderschaften und Kaffeekränzchen oder einfach nur Freunde und Bekannte, um auf Kohlfahrt zu gehen. Zur Ausrüstung gehören ein Handwagen (Bollerwagen), gerne mit Klingel, Hupe oder Fanfare ausgestattet (immer wieder auch gesehen mit Musik- und Discolightanlage, kompletter LKW-Beleuchtung oder eingebautem Kühlschrank), meist ausgestattet mit dem jeweiligen Vereinswappen oder mindestens einem Plakat, immer gefüllt bis unter den Rand mit dem zweiten wichtigsten Ausstattungsmerkmal einer Kohlfahrt: Alkohol! Am liebsten Kurze, von Köm bis Apfelkorn. Die Kohlfahrer erkennt man am typischen Merkmal, das 1cl-Schnapsgläschen hängt an einer kleinen Kordel um den Hals, die Nase gerötet von der Kälte, die Wangen vom Alkohol. So ziehen sie zusammen in großen Gruppen durch die Wesermarsch, zwischen 2 und 5 Kilometer werden vom Ausgangspunkt zu einem Grünkohllokal (meist auf dem Lande) auf Schuster Rappen zurückgelegt und dabei permanent gesoffen (anders kann man das nicht nennen). Im Ostfriesischen wird sich dabei oft auch die Zeit mit Boßeln vertrieben, einem Boule-Spiel bei dem es auf Entfernung ankommt, und die Kugel immer wieder aus halbzugefrorenen Ackergräben (Kloot) zu fischen, eine Tradition die noch etwas seltsamer ist als die Kohlfahrt selbst.
Jedenfalls trinken alle, vom Chef bis zum Botenjungen, vom Bürgermeister bis zur Sekretärin, von jung bis alt. Und mit fortschreitender Alkoholisierung nimmt die Fraternisierung zwischen Leuten, die sich sonst nicht riechen können zumeist banale Formen an. Von fröhlich bis peinlich, von speiübel bis vollgefressen, der Kohlfahrer an sich erlebt ein Wechselbad der Gefühle und genießt es wie im Rausch. Vollgefressen? Genau, denn den Endpunkt einer jeden Kohlfahrt ist natürlich das Kohlessen. In großen Gaststuben und umdekorierten Ballsälen wird tonnenweise Grünkohl und Pinkel (Hackgrütze im Naturdarm) und Kasseler Braten aufgefahren, jeder darf und muss soviel essen wie er will oder kann und natürlich wird auch hier weitergetrunken, bis zum Verlust der Muttersprache. Das geht so lange, bis die ersten Ohnmachten auftreten oder alle sich übergeben müssen. Wer Pech – oder Glück hat, da unterscheiden sich die Überlieferungen – wird als bester Esser, schlechtester Esser, bester oder schlechtester Säufer, je nach Gruppe ist das verschieden, zum Kohlkönig gewählt; oft muss diese bemitleidenswerte Person die nächstjährige Kohlfahrt ausrichten. Battalione von geifernd wartenden Landtaxifahrern fahren die Überlebenden dann wieder nach Hause. Am nächsten Tag ist dann alles vergessen, bis zum nächsten Jahr.
Und da sage jemand, der Rest der Welt habe seltsame Riten und Gebräuche, die wahren Verrückten verstecken sich hier oben im Norden. Ich habe mich als Zugezogener solchen Ritualen immer gerne entzogen, es mag affektiert klingen, aber meine Devise ist: Wer auf Kohlfahrten geht, der feiert auch Karneval, oder frisst auch kleine Kinder….
For my non-german-speaking readers: Armin Grewe wrote an article for your understanding of all this: Kohlfahrt - An Explanation for Bavarians and others.
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