Ein Haufen gefährlicher Irrer

Letzte Woche hatte ich einen Flyer imBriefkasten, mit dem mir der oberste Querdenker Schwindelarzt aus Sinsheim weismachen will, dass „Covid-19 keine erhöhte Gefahr darstellt“. Die Sterberate in Deutschland entspräche lediglich der einer leichten Grippesaison. Ansonsten sind nur Links zu Webseiten von Corona-Leugnern darauf, zum Teil mit Inhaltswarnung des verwendeten Shortlink-Anbieters davor, der Inhalt sei mehrfach als Fakenews gemeldet worden. Die Szene der Corona-Leugner sucht mich zu überzeugen mit endlosen Videos von irgendwelchen Ausschüssen, bei denen sich mitunter der o.g. Schwindelarzt selbst vernimmt. Kann mir auch keiner erzählen, dass das jemand diese X „Tausend Minuten Videomaterial anschaut“, aber falls doch: Es ist die perfekte Gehirnwäsche.

Und immer wieder: Spendenaufrufe. Beispielsweise versprechen die Eltern gegen Corona, dass die Klagen, für die sie Spenden gesammelt haben, jetzt unterwegs sind und demnächst auf der Seite veröffentlicht werden. Bis dahin bitte weiter spenden. Am dreistesten ist die Querdenker-Website selbst, auf der vorgerechnet wird, die angeblich gleichbleibend niedrige Testpositivrate von einem Prozent (stimmt so gar nicht, sie übersteigt inzwischen fünf Prozent) wäre gleich der Testfehlerrate, also gäbe es schon seit April keine Coronafälle mehr. Die Leute sind nicht einfach anderer Ansicht als ich, die lügen ganz offen.

Das Problem bei der Sache, es finden sich scheinbar immer mehr Leute, die bereit sind, diese Lügen zu glauben. Millionen von diesen Flyern werden von rund 425 regionalen Gruppen in die Briefkästen gesteckt, organisiert über Telegram-Gruppen. Wie sich diese Leute inzwischen verrannt haben, zeigt dieser Bericht:

Die Mitglieder sind vielfach überzeugt, dass Corona keine Gefahr darstellt. Viele sind verzweifelt, dass sie in ihrer Umgebung nur auf Ablehnung stoßen und als „Covidioten“ ausgegrenzt werden. Aus der Gruppe im Kreis Heinsberg, dem ersten Corona-Hotspot in Deutschland, schreibt ein Mitglied nach dem Verteilen: „Man wird angeschaut, als ob man Staatsfeind Nummer 1 wäre.“

Lustigerweise bekommen die Gruppen die Flyer zwar umsonst, spenden nach eigenen Angaben aber dafür großzügig auf die Konten des Schwindelarztes. Das hat alles schon etwas sektenmäßiges. Das muss es auch, denn nur eine echte Sekte kann damit umgehen, dass Vorhersagen von Wundern oder dem Weltuntergang nicht eintreten. Die exponentiell ansteigenden Infektionszahlen der letzten zwei Wochen, vor allem aber die wieder ansteigenden Belegzahlen für Intensivbetten und die steigende Todesrate, all das lässt sich nur mit mehr Leugnung und folglich mehr Extremismus ertragen für die, die sich selbst als Aufgeweckte begreifen. Und schon gibt es einen Brandanschlag auf das RKI, oder einen Sprengstoffanschlag auf die Leibniz-Gesellschaft. Diese Szene also als verschrobene Idioten abzutun, könnte sich als schwerwiegender Fehler herausstellen. Und wer könnte einen solchen Fehler begehen? Richtig, der Verfassungsschutz natürlich, für ihn sind die Querdenker „eine aus dem zivil-demokratischen Spektrum stammende Bewegung, welche im gesamten Bundesgebiet Veranstaltungen gegen die Corona-Beschränkungen organisiert und durchführt, an denen auch vermehrt Akteure aus der rechtsextremen Szene teilnehmen“ (aus dem Lagebericht des Corona-Krisenstabes).

Wie das Kaninchen vor dem Lockdown

Nun ist die zweite Welle auch bei uns in Lübeck angekommen. Helle Aufregung entstand dabei gestern, als die 7-Tage-Inzidenz mit einem Mal über 35 hüpfte. Man rechne nun auch mit einem Überschreiten der Grenze von 50 bis übermorgen, sagte Bürgermeister Lindenau noch im eilig reaktivierten LN-Livestream auf Facebook. Einen Tag später ist auch diese Einschätzung Geschichte, denn bereits heute steht die Inzidenz bei 50,8.

Was mich erstaunt: trotz der Entwicklung in ganz Deutschland, die es ja absehbar gemacht hat, dass nun auch nicht gerade Lübeck das gallische Dorf aus dem Comic sein würde, das als letztes dem Virus widersteht, ist die Überraschung über die plötzliche Dynamik doch reichlich groß. Entsprechend hilflos fallen die Maßnahmen aus, die kurzfristig beschlossen wurden:

  • Maskenpflicht in den Straßen der Altstadtinsel und auf der Promenade in Travemünde
  • eine Sperrstunde für die Gastronomie zwischen 23 und 6 Uhr
  • der Außerhausverkauf von Alkohol, bspw. an Tankstellen wird ebenfalls in dieser Zeit verboten
  • die Besucherzahlen von Veranstaltungen werden eingeschränkt, bleiben aber hoch
  • bei Treffen und Feiern zu Hause, dürfen nur noch maximal 15 Personen zusammen kommen
  • der Weihnachtsmarkt im Dezember ist abgesagt
  • die nordischen Filmtage finden komplett online statt, ohne Veranstaltungen in Kinos.

Eine Maskenpflicht auch draußen mag ja sinnvoll sein, aber die Einschränkung auf bestimmte Straßen und Plätze macht solche Regelungen unverständlich und kompliziert, sie müssen dann jetzt erstmal von Ordnungshütern durchgesetzt werden, die dann anfangs auch erstmal kulant sein müssen, bis das greift (ohne zu klären ob es etwas hilft) dauert es eine ganze Zeit. Ich habe auch nichts davon gehört, dass es jetzt eine erhöhte Ansteckungsgefahr im Freien gäbe, an der Promenade in Travemünde hat man im Sommer nich die Leute gestapelt und fröhlich verkündet, im Freien könne ja quasi nichts passieren. Dass der Weihnachtsmarkt abgesagt wurde ist zwar konsequent, aber auch keine schnell wirkende Maßnahme, das er überhaupt weiter geplant wurde, war der eigentliche Anachronismus. Und die nordischen Filmtage waren eh zum großen Teil bereits auf Streaming umgestellt. Allein die Sperrstunde geht das Problem der Ansteckung in Kneipen, wie in der Hamburger „Katze“ an, aber auch davon hat man in Lübeck vorher nichts gehört.

Das Problem ist, dass niemand zu wissen scheint, wo sich die vielen Leute aktuell anstecken. Die Nachverfolgung funktioniert schon lange nicht mehr dergestalt, dass die Gesundheitsämter nicht feststellen können, wo sich jemand infiziert hat. Das mag zum einen daran liegen, dass die Auswahl zu groß ist (die Party am Wochenende, die Afterhour zu Hause, der Besuch auf Omas Geburtstag, mit dem Bus zur Arbeit und abends Restaurant, Kino und Kneipe) und das im nicht privaten Bereich auch einfach schwierig herauszufinden ist, wo wer aufeinander getroffen ist. Die Corona-App hätte hier helfen können, aber die Mehrheit der Bevölkerung ist das ja alles viel zu egal, um sich so ein App aufs Handy zu laden. Bleiben die Ansteckungen im privaten Umfeld, zu denen die Ämter leichter Zugang haben und wo auch der Auskunftswille größer ist (die eigene Familie schützen, da das geht). Deswegen ist immer davon die Rede, dass die Leute sich im Privaten anstecken würden, dabei ist das eben nur der kleine Teil der Ansteckungen wo das eben klar ist. Ein klassischer Denkfehler.

Wir hätten den virusmilden Sommer nutzen können, unsere Infrastruktur, unsere Schulen, unsere Arbeitsstätten, vor allem aber unsere Einstellung vorzubereiten auf den lang und breit vorhergesagten harten Herbst. Stattdessen haben wir uns in nutzlosen Diskussionen mit Nazis, Impfgegnern, Veganköchen und anderen Realitätsverweigerern eingelassen. Stattdessen sind wir in den Urlaub gefahren. Stattdessen haben wir uns eingebildet, alles sei doch nicht so schlimm und am Ende doch nur Panikmache.

Monatelang haben Politiker immer wieder betont, es gäbe so wenig Ansteckungen, weil sich die Leute an die Regeln hielten. Hatte man einen anderen Eindruck, wurde einem direkt wieder Panikmache und Schwarzmalerei vorgeworfen. Und nun behaupten die gleichen Politiker, die Bürger seien nicht einsichtig genug und appellieren eindringlich, jetzt doch endlich Abstände einzuhalten und Masken zu tragen. Sonst drohr der Lockdown.

Stattdessen hat man den Sommer über mit Nichtstun verbracht. In den Schulen gibt es keine Hepafilter. Nicht mal CO2-Messgeräte. In den Gesundheitsämtern wird noch per Fax kommuniziert, mit Papier und Bleistift Buch geführt. Am Sonntag sind sie geschlossen und sonntags finden auch keine Tests statt. Es sind noch immer nicht alle Testlabore an das Corona-App-Meldesystem angeschlossen. Es liegen nicht einmal vorbereitete Maßnahmenkatalogen in den Rathausschubladen, es gibt keine Idee, was zu tun ist.

Nennt mich Sirene, aber ich sage: der Lockdown wird kommen.

Im Schlachthof der Gesellschaft

Achtung: Pessimimus inside.

Das sind die Errungenschaften der Gammelfleischskandale der letzten Jahre: auf jedem Stück Fleisch, dass wir kaufen können, werden wir über den Herstellungsprozess dergestalt informiert, dass wir wissen oder erfahren könnten, wie es der Kuh ging, die für unseren nächsten Hamburger ihr Leben ließ. Ein wenig erinnert das an das „Restaurant am Ende des Universums“, wo die Kuh an den Tisch kommt und ihre Einzelteile feil bietet und gleichzeitig darüber sinniert, was schön es doch ist, für das Mahl des Gastes gleich dahin zu scheiden.

Was für eine miese Masche das doch ist. Tierschutz wird bei uns groß geschrieben, der Menschenschutz wurde dabei geschickt unter den Teppich gekehrt. Kann ich mir gut vorstellen, wie Agrarministerindarstellerinnen wie Julia Klöckner bei eckigen runden Tischen auf denselben gehauen haben, damit das endlcih aufhört mit dem Gammelfleisch. Und Aldi, Lidl und ihre Schlachterschergen so: ja geil, wir schreiben einfach auf die Packung, woher das Fleisch stammt, dann kann der Kunde selbst entscheiden. Ob er das gute Fleisch nimmt (natürlich teurer) oder weiter die Grillfackel für 20 fucking Eurocent. Am Ende kaufen die beides! Und wir verdienen uns dumm und dusselig. Hauptsache es spricht keiner über die Ausbeutung der Menschen, die den Scheiss verarbeiten müssen.

Geiz ist geil, prima leben und sparen

Prima leben und sparen ist nun viele Jahre unsere Devise gewesen. Unter dem Brennglas Coronakrise kommt aber auch hier ans Licht: was wir an der Aldi-Kasse nicht zahleb, zahlt jemand anderes. Das kann das maltretierte Schwein sein, das im osteuropäischen Hinterland auf einem Quadratmeter in Dunkelheit seinen Tod herbeisehnt, oder der Nachbar aus dem gleichen osteuropäischen Dorf, der als Wanderarbeiter durch den reichen Westen reist und versucht so sich und seine Familie zu ernähren. Die Lösung dafür ist übrigens nicht, nicht beim Discounter und nur noch Bio-Fleisch zu kaufen. Oder di Welt zum Veganismus zu Bekehren. Das kann man alles natürlich machen, in der Hoffnung, bei sich selbst beginnend die Welt ein wenig besser zu machen. Nur hilft das wenig und schon gar nicht jenen, die sich die exorbitanten Preise, die Bio und Regional nun mal unweigerlich kosten, nun einmal nicht leisten können. Zumal die Welt der Bio- und Veganprodukte ja schon längst in den Geiz-ist-geil-Kosmos unseres Konsumkapitalismus voll eingebunden sind. Am Ende wollen ja alle nur Geld verdienen. Und das ist in unserer Welt die Ausrede für alles, ein Quasi-Grundrecht in diesem Land. Ein Recht auf einen sicheren Arbeitsplatz (sicher wie in für lange Zeit und sicher wie in nicht bei der Arbeit krank werden) jedoch gibt es bei uns leider nicht.

Offenlegung: Hier fehlt der Absatz mit der Lösung. Ich sehe keine politische Kraft in diesem Land, ach was auf diesem Kontinent, die eine Änderung der Verhältnisse herbeiführen wollte oder könnte.